Eine Stadt für dich, für mich, für uns
Zur Bedeutung intersektionalen Städtebaus


Stellen Sie sich vor, sie würden in einer Stadt wohnen, in der Kinder unbeschwert und sorgenfrei mit dem Fahrrad fahren, Menschen mit Gehbehinderung und/oder im Rollstuhl sich ohne Hindernisse im öffentlichen Raum fortbewegen, Begegnungsstätten für alte und junge Menschen im öffentlichen Raum das soziale Miteinander generationsübergreifend stärken und Menschen jedem Geschlechts und jeder Sexualität nachts ohne Angst vor Gewalt und Belästigung nach Hause gehen. Wie klingt das? Schön, oder? Aber ehrlich gesagt auch ein wenig nach rosaroter Utopie, nicht wahr? Denn unsere Städte und deren Infrastruktur sind nicht auf die Bedürfnisse aller Bürger:innen ausgelegt. Intersektionale Ansätze innerhalb der Stadtplanung sollen hier Lösungswege bieten, die es allen Büger:innen ermöglichen sollen, am städtischen Leben gemeinsam teilzuhaben. 

Wie Städte und deren Infrastruktur errichtet und genutzt werden, wird noch immer weitestgehend von einer männlichen Perspektive geprägt – ein Grund dafür ist auch die Besetzung der zuständigen (Entscheidungs-)Ämter, in denen auch heute noch hauptsächlich cis-Männer sitzen. Weshalb Ämter vielfältiger besetzt werden sollten und welche Auswirkungen nicht-intersektionale Stadtplanung auf das Leben der Bürger:innen hat, zeigen auch folgende Beispiele: 2021 gab es einen Aufschrei in Deutschland und Braunschweigs öffentliche Toiletten gewannen unverhofft an Bedeutung. Denn hier wurde ein Bezahlsystem eingeführt, das klar zwischen Geschlechtern unterscheiden sollte. Während Frauen für die Nutzung der öffentlichen Toilette 20 Cent bezahlen sollten, durften Männer die Toilette kostenfrei nutzen. Begründet wurde dies damit, dass Männer dazu motiviert werden sollten, statt frei zu pinkeln, auf das Angebot der öffentlichen Toilette zurückzugreifen. Eine staatliche  Erziehungsmaßnahme, die zu einer klaren finanziellen Diskriminierung weiblich gelesener Menschen führte.   

Auch das Thema Mobilität und Verkehrswende wird noch immer nicht intersektional genug gedacht. Einer Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) 2021 zu entnehmen, geben 83 Prozent der teilnehmenden Frauen an, dass sie das Haus aus Angst vor Gewalt und Belästigung wesentlich seltener verlassen – der Grund: Städte bieten zu wenig Schutzräume. Zu wenig Beleuchtung, ein zu gering ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz, ungenügend ausgeweitete Angebote wie Nachttaxis und zum Teil sogar Empfangsprobleme mit dem Handy. So entstehen auf dem Nachhauseweg Angsträume, die Belästigung und Gewalt fördern können. 

Eine Stadt für alle: geht das?

Um Städte für alle Bürger:innen lebenswert und möglichst angstfrei zu gestalten, schlug Dolores Hayden bereits 1980 eine erste Form der intersektionalen Stadtplanung vor. Als intersektionale Stadtplanung wird die Berücksichtigung der Wechselbeziehung zwischen sozialen, geschlechtsspezifischen, altersbedingten und körperlichen Ungleichheiten bezeichnet. Haydens Vorschlag zielte 1980 darauf ab, Wohngebiete an die Bedürfnisse von Vollzeitbeschäftigen und Care-Arbeiter:innen gleichermaßen anzupassen sowie die soziale Durchmischung der Wohngebiete durch gezielte staatliche Programme. Im Fokus von Haydens Arbeit stand vor allem die Integration derer, die die Care-Arbeit leisteten und in der Stadtplanung oft überhaupt nicht berücksichtigt werden. Sogenannte Homes-Gruppen (Homemakers Organization for a More Egalitarian Society) sollten als gleichberechtigte und sozial durchmischte Wohngebiete fundieren. Diese Quartiere umfassten das Grundprinzip der Fußläufigkeit. Kindertagesstätten, Lebensmittelgeschäfte, Wäschereien, Essen auf Rädern, Carsharing-Parkplätze, Gemeinschaftsgärten sowie ein öffentliches Büro, welches Familien und älteren Menschen Hilfe anbietet, z.B. Kinderbetreuung im Falle einer Krankheit. Durch die fußläufige Entfernung alltäglicher Lebens- und Begegnungsstätten sollte garantiert werden, dass sowohl Senior:innen, Care-Arbeiter:innen aber auch sozial schwache Familien gemeinsam und niederschwellig am Alltag teilhaben könnten – ein soziales Miteinander sollte so im ganz natürlichen Rhythmus des Alltags entstehen. Zwar lieferte das Konzept Haydens neue, integrative und lösungsorientierte Vorschläge, wurde aber nur von wenigen Städten aufgegriffen. 

Ein Beispiel hierfür ist die Frauen-Werk-Stadt in Wien – die Planung dieses Quartiers unterlag ausschließlich Frauen. 1997 fertiggestellt, garantiert das Wohngebiet das Erreichen alltagsnotweniger Orte zu Fuß und in nur wenigen Minuten. Dazu gehören (Lebensmittel)Geschäfte, Kindergärten, Ärzt:innen, eine Polizeiwache und sogenannte Gemeinschaftseinrichtungen sowie großzügige Freiflächen, die als Begegnungsorte fungieren. Das Projekt sollte ein großer Erfolg werden, sodass bald darauf Frauen-Werk-Stadt II folgte: in diesem Wohnbauprojekt liegt der Fokus auf altersgerechtes Wohnen und Leben.  

Alles neu, alles gut?

Heute finden intersektionale Planungsansätze häufiger den Weg in die Planung neuer Stadtteilprojekte – was dabei jedoch nicht berücksichtigt wird, sind die bereits bestehenden Stadtteile. Denn wenn intersektionale Maßnahmen nur in neuen Wohngebieten Anwendung finden, ist das Ziel einer inklusiven Stadt beinahe unmöglich und Ungleichheiten, insbesondere sozialer Natur, werden zunehmend wachsen. 

Diese Prognose liefern auch Wissenschaftler:innen, die sich in ihrer Arbeit mit der sozialwissenschaftlichen Raumtheorie befassen. Denn die sozialen Verhältnisse innerhalb einer Gesellschaft spiegeln sich im Stadtraum wider, insbesondere in kapitalistischen Gesellschaften, in denen soziale Ungleichheit durch Machtverhältnisse aufrechterhalten werden, führt unter anderem Dr. Nina Schuster der Universität Duisburg-Essen in ihrem Vortrag „Stadt für Alle?! Feministische Perspektiven in der Stadtentwicklung“ (23. September 2022) aus. Die teils mangelnde Infrastruktur in älteren Stadtteilen sowie bewusst ausgegliederten Vororten könnte so zu einer Aufrechterhaltung von Herrschafts- und Machtverhältnissen führen.

Die derzeitigen Lösungsvorschläge intersektionaler Stadtplanungen sind so vielseitig, wie die Bauprojekte der Städte es selbst sein sollten.  Dazu zählt die aktive Integration von FLINTA-Personen in die Stadtplanung, denn nicht nur die Projekte in Wien haben gezeigt, dass die Bedürfnisse von z.B. Frauen, die noch immer hauptsächlich in der Care-Arbeit tätig sind, nur so tatsächlich berücksichtigt und umgesetzt werden können. Um dies zu gewährleisten, müsste es mehr aktive Förderung von FLINTA-Personen im Ausbildungswesen der Stadtplanung geben, Perspektiven sollten hier bereits in der Schule gesetzt werden. Auch die politische Beratung solcher Projekte kann nicht funktionieren, wenn ausschließlich vermeintliche Expert:innen am Tisch sitzen, deren Lebensrealität weit entfernt von der der Bürger:innen selbst ist. So wird der aktive Einbezug von z.B. queeren, disabled, alten und weiblich gelesenen Menschen gefordert, denn nur so können Bedürfnisse erfasst und Lösungen oder auch Kompromisse gefunden werden. Zudem stellen Organisationen die Forderung, dass große und neue Wohnbauprojekte per Gesetz intersektional umgesetzt werden müssen, d.h. barrierefrei, sozial gemischt, niederschwellig, fußläufig, lebensnah. Nur so könnte in Zukunft gewährleistet werden, dass Städte wirklich inklusiv und intersektional sind und sich an der Lebensrealität der Bürger:innen, die diese Städte erst mit Leben füllen, orientieren.

Elisabeth Jockers


Der Post entstand im Rahmen eines forschungsorientierten Studienprojekt im Sommersemester 2023. Das Beitragsfoto ist gemeinfrei.